Die fünfte Jahreszeit

[...] Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es – wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat –: dann ist die fünfte Jahreszeit.

Hirschpark Blankenese

Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an; an andern Tagen atmet sie unmerklich aus leise wogender Brust. Nun ist alles vorüber: geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist – nun ist es vorüber. Nun sind da noch die Blätter und die Gräser und die Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. Es ruht.

Grimaldi Lines mit Schlepper

Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht, im Licht sind wirklich schwarze Töne, tiefes Altgold liegt unter den Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen ... kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still. Blank sind die Farben, der See liegt wie gemalt, es ist ganz still. Boot, das flußab gleitet, Aufgespartes wird dahingegeben – es ruht.

Elbe

Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft – es ist etwas geschehen; so lange hat sich der Kubus noch gehalten, er hat geschwankt ... , na ... na ... , und nun ist er auf die andere Seite gefallen.

Strandholz

Noch ist alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher ... aber nun ist alles anders. Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen – nun geht es in einen klaren Herbst. Wie viele hast du? Dies ist einer davon. Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören. Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre.

Elbufer

Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.

Kurt Tucholsky, Die fünfte Jahreszeit
[http://www.textlog.de/tucholsky-jahreszeit.html]

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Es lohnt sich doch

Es lohnt sich doch, ein wenig lieb zu sein
Und alles auf das Einfachste zu schrauben.
Und es ist gar nicht Großmut zu verzeihn,
Daß andre ganz anders als wir glauben.

Und stimmte es, daß Leidenschaft Natur
Bedeutete im guten und im bösen,
Ist doch ein Knoten im Schuhband nur
Mit Ruhe und mit Liebe aufzulösen.

Ringelnatz

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Hubertuslied

Von Wiglaf Droste

Kalter Kafka, Sommerloch:

Soldaten sind zum Schießen.

Huch, wer hätte das gedacht?

Daß sie das Schießen nicht ließen?

Das ist weltweit ihr Beruf.

Kein Grund, hysterisch zu sein.

Hubertus Knabe heißt auf deutsch:

Jägerlatein.

Das Sommertagebuch (37) in der jw

Darauf gleich noch eine Filmempfehlung des Herrn Droste zum 13. August: Billy Wilders "Eins, Zwei, Drei" - Pfefferminz mit Sibiriengeschmack, Das Sommertagebuch (38)

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Wiglaf Droste in der jw: Erkenntnis to go

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Verurteilt wegen Kalauern


Bild: ahoi polloi

Hindu, Inder
Woher du kommst, wo Hindu gehst,
du Inder Regel nie verstehst.

van Gogh, Absinth
Nun van Gogh nicht gleich an zu heulen, mein Kind,
nur weil inzwischen beide Ohren Absinth!

Lenin
"Opa's voll bis an den Rand!"
"Dann Lenin einfach an die Wand."

Dior, Chanel
Wir sind spät dran, Isabel!
Schau auf Dior, los mach Chanel!

Brad Pitt
Nein, dieses Tofu ess ich nicht,
Brad Pitt schön mal ein Schwein für mich.

Dänemark, Norwegen
Der Danemark den Räucherlachs
Norwegen seines Rauchgeschmacks.

Rumsfeld
Soldat zu sein ist ziemlich dumm,
denn macht es Rumsfeld man tot um.

Soldaten
Strammsteh und gehorsam sein -
Soldaten wirklich alles sein?

Gewehr, Kanone
Gewehr dem Staat die Kriegsanleih'n,
denn er Kanone Krieg nicht sein.

Wanderführer
Ob die Gestapo wohl notiert,
Wanderführer mastubiert?

Graphik
Freiherrn bumsen ist debil.
Wenn ich nen Graphik - das hat Stil!

Alle von verschiedenen Verfassern, alle aus:Bilden Sie mal einen Satz mit... Ein Dichterwettstreit (vorgestellt von Robert Gernhardt)

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Nie allein

Eine Seite des Proletarierschicksals aller Länder wird niemals beschrieben – nämlich die Tragik, die darin liegt, dass der Proletarier nie allein ist. So ist sein Leben: Geboren wird er im Krankenhaus, wo viele Mütter kreißen, oder in einem Zimmer, wo ihn gleich die Familie mit ihrem Anhang, den Schlafburschen, umwimmelt; so wächst er auf, und es ist noch eine bessere Familie, wenn jeder sein eigenes Bett hat; alle aber, die so leben, leben ständig das Leben der anderen mit und sind nie allein. So ist seine Welt; sein Haus hat viele Höfe, und unzählige Familien wohnen hier, kommen und gehen, schreien und rufen, kochen und waschen, und alle hören alles, jeder nimmt am Schicksal des andern auf die empfindlichste Art teil, in der dies möglich ist: nämlich mit dem Ohr. Das Ohr des Proletariers lernt Geräuschlosigkeit nur in der Einzelhaft kennen.

Im Maschinensaal arbeitet er mit den andern; im Stollen mit der Belegschaft; am Bau mit den andern – nie ist er allein. Zu Hause nicht – nie ist er allein. Noch, wenn er stirbt, stirbt er entweder in so einem schmierigen Loch oder im Krankenhaus – und ist auch dann nicht allein.

Man sage doch nicht, dass ›die Leute dies gewöhnt seien‹ – das erinnert an den Ausspruch jenes Kellners, der da beim Austernservieren sagte: »Ja, die Austern sterben sofort, wenn man die Schale öffnet. Aber sie sind das gewöhnt!« An so ein Leben, in dem man nie allein ist, gewöhnt man sich nicht; man lebt es bitter zu Ende.

Das hat gar nichts mit einem falschen Bürger-Ideal zu tun; Kollektivität und Solidarität stehen auf einem andern Blatt. Die französischen Bauern umgeben ihre Besitzungen gern mit einer hohen Mauer; deutsche Kleinsiedler haben eine immense Vorliebe für den Zaun, weil er ihnen Symbol für das Eigentum ist ... die neue Generation in Rußland hat ein neues Lebensgefühl in die Welt gerufen und ist sich vielleicht weniger feind, als das sonst unter Menschen üblich ist. Klassengenossen sollen solidarisch sein und kollektiv arbeiten und leben, gewiß. Aber gibt es ein menschliches Wesen, das da mehr sein will als nur Arbeitsmotor, Fortpflanzungsapparat und Verdauungsmaschine, und das nicht den Wunsch hätte, einmal, nur ein einziges Mal, allein zu sein?

Hier liegen nicht nur die Körper zusammen – hier dünsten auch die Seelen aus, und weil für keine Platz genug da ist, so ziehen sie sich zusammen und werden beengt, bedrängt, manchmal klein.

Wieviel Mut, wieviel Energie gehört dazu, um unter so niedriger Decke noch zu hoffen, zu arbeiten, den Gedanken des Klassenkampfes nicht trübe verglimmen zu lassen!

Die Frau, die Kinder – auch sie nie allein.

Der Mensch von 1929 ist nicht mehr allein wie auf einer Ritterburg oder in einer Eremitenklause. Wie die Waben sitzen die Wohnungen in den Mietshäusern beieinander –

Ist der Proletarier nicht sehr stark, ist er nicht durchdrungen von dem Gedanken, für seine Klasse zu kämpfen, dann entsteht eben jene Welt: ›Drittes Quergebäude, rechts, zweiter Hof‹ ... In dem ewig dunkeln Gang hängen nicht nur die Eimer an den Wänden, an diesen Wänden klebt auch zäher Klatsch, Niedrigkeit, die aus der Not kommt, diese Menschen knurren sich an, weil sie zu nah aneinanderwohnen – wie kümmerlich die Versuche, in solchen Ställen so etwas wie ein ›Heim‹ aufzubauen. Das muß dem Nächsten abgerungen werden, und es wird ihm abgerungen, unter steten Kämpfen, unter Seelenqual und Bitternis. Nie sind diese Leute allein.

Lebt der deutsche Arbeiter so –?

Ein großer Teil lebt so und tut seine Arbeit und hat Sehnsucht nach einem andern Leben und quält und schindet sich und ist nie allein.

Kurt Tucholsky
Aus: Deutschland, Deutschland.
Bei textlog.de

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Der Lenz ist da

›Kreuz-Zeitung‹

Der Lenz ist da. Auf den Feldern des deutschen Landmannes sprießt und wächst es, ernste Kirchenglocken mahnen zur Andacht, aber das Herz wird nicht so leicht den Frühling in sich einziehen lassen. Vergleicht man diesen republikanischen Lenz mit dem guten kaiserlichen Frühling, so wird jeder gute Deutsche feststellen, dass es da keine Vergleichsmöglichkeit gibt. Dort hoffnungsfrohes Lenzgefühl in schimmernder Wehr, wie sie schon die alten Germanen kannten – hier eitel Dolchstoß, Barmat, Lüge und knechtseliges Hofieren vor zur Macht gelangten Landesverrätern! Ein Blick in die Natur zeigt, woher allein das Heil kommen kann: aristokratisch wie die Natur, die nur die Herrschaft des Einen anerkennt, die Pöbelmassen rücksichtslos zu Boden stoßend, sei auch unser Land! Ein Volk, das fremde Fürsten importieren muß, ist zum Untergang verdammt. Wer, wie wir, dem angestammten Fürstenhaus in den schweren Tagen des Umsturzes die Treue gewahrt hat – – –

›Rheinisch-Westfälische Zeitung‹

Der Lenz ist da. Deutscher Frühling ist über die deutschen Lande gekommen, und echt deutsches Blühen sprüht aus deutschen Knospen. Die politische Situation sieht allerdings nicht so hoffnungsgrün aus. Die Sklaverei, in der der Feindbund Deutschland gefangen hält, sowie die Begehrlichkeit der Arbeiter wirft einen Schatten auf das frühlingshafte Gemälde. Ein Blick in die Natur zeigt, was Deutschland allein noch vom Untergang retten kann: Produktion und nochmal Produktion, und zwar eine solche, die sich nicht an den Acht-Stunden-Tag gebunden glaubt. Blüht der Kirschbaum nur acht Stunden? Bringen die Bienen nur acht Stunden den Honig ein? So wie der Generaldirektor eines Hüttenwerks unablässig, die Nacht zum Tage machend, für das Wohl der ihm unterstellten Arbeiter sorgt und die deutsche Wirtschaft fördert, so soll auch der deutsche Arbeiter einsehen, dass die Einflüsterungen, denen er unterliegt, von landfremder Seite herkommen. Eine Stärkung der Reichswehr, eine Erhöhung des Schutzzolles und eine scharfe, aber gerechte Lohnsteuer – das tut uns not!

›Germania‹

Der Lenz ist da. Durch Gottes unerforschliche Güte sprießt auch in diesem Jahr das frische Grün auf den Feldern, die ersten Maiglöckchen strecken ihre Köpfchen schüchtern aus der braunen Erde und lassen uns fragen, wer dies alles geschaffen hat, lassen uns dem Schöpfer für sein Werk danken. In die Frühjahrsglocken aber mischt sich die Sorge um das neue Schulgesetz, das leider nicht ganz so ausfallen wird, wie es die Interessen der katholischen Kirche verlangen. Solange es Eltern gibt, die die Möglichkeit haben, ihre Kinder ohne Religion aufwachsen zu lassen, solange steht es nicht gut um Deutschland! Der Terror der Freidenker nimmt groteske Formen an, die wir nicht dulden können. Ein Blick in die Natur belehrt uns, dass es dort keine Freiheit gibt – wir sehen Gebundenheit, wohin wir auch schauen –, also warum sollten sich die Menschen eine Freiheit anmaßen, die der Herr seinen Kreaturen selbst nicht gönnt? Die Simultanschule bedeutet die Entfesselung eines neuen Kulturkampfes, den wir aufzunehmen entschlossen sind. Ver sacrum! Blicken wir in diese Natur, so sehen wir nirgends einen Lutherfilm, können also auch nicht dulden, dass ein solcher das deutsche Volk in seinen tiefsten Gefühlen verletze!

Generalanzeiger-Presse

Der Lenz ist da! Die kleinen Krokusblüten entfalten langsam ihre zierlichen Blätter, die ersten Schwalben schwirren durch die lenzliche Luft, und ein kleiner Schulbub hat uns gestern einen jungen Maikäfer auf unsern Reaktionstisch gesetzt! Der Hirt zieht mit seinen Schafen von Tal zu Tal, auch unsre Leser sind aus ihrem Winterschlaf erwacht, und junge Birken bedecken sich mit zartem Grün. Auch der Politiker hat alle Ursache, Ausschau zu halten ins weite Land. Wenn auch einerseits nicht geleugnet werden kann, dass Deutschland in den letzten Jahren wieder eine Stellung gegenüber dem Ausland erlangt hat, die wir nur begrüßen können, so muß doch andererseits gesagt werden, dass die republikanischen Staatsmänner nicht immer mit jener Vorsicht und diplomatischen Kunst zu Werke gegangen sind, die wir von ihnen verlangen dürfen und können. Herr Stresemann geht auch jetzt wieder nach Genf, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und wenn auch nicht geleugnet werden soll, dass ... so doch immerhin ... aber auch andererseits ...

›Vorwärts‹

Der Lenz ist da. Da zieht der klassenbewußte Arbeiter gern ins Grüne und vergißt für einige Stunden die ernste Berufsarbeit und die Fron des Lebens. Ein Blick in die dem Arbeiter vertraute Natur lehrt, woher allein das Heil kommen kann: aus der Zusammenarbeit aller für ein Gesamtziel, und auch die Natur, die keine Einzelführer kennt, sondern jede Gattung nur als Ganzes wirken läßt, bestätigt den Sozialismus und die Republik. Ohne etwa russische Experimente, deren Gefährlichkeit feststeht, billigen zu wollen, wird doch die Partei unerschütterlich, von staatsmännischem Kompromiß zu Kompromiß eilend, am Aufbau Deutschlands mitarbeiten, dem Völkerfrühling entgegen!

Modezeitschrift

Der Lenz ist da. Die Dame von Welt bevorzugt in diesem Jahr das leichte Kascha-Kostüm, das oben eine leicht erweiterte Linie gegen das vorige Jahr zeigt, unten aber streng zusammengerafft ist. Hellbraun, marinegrün und gendarmenblau sind die Farben des Frühlings. Die Schuhe für den Morgen sind aus leicht gefälteltem Bambusrohr, für den Vormittag ist natürlich nur pockennarbiges Walfischleder möglich; für den frühen Nachmittag weiß gestepptes Bockleder, für den späten Nachmittag stumpfes Kalbleder, für den Abend Lackseide oder Alpacca-Chenille ...

Der liebe Gott nach der Lektüre der Morgenzeitungen:

»Dös wann i g'wußt hätt, nachher hätt i dös net erschaffn!«

Peter Panter, Lenzliche Leitartikel

Simplicissimus, 26.03.1928, S. 710.

Via

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Ballade von der Unzulänglichkeit des menschlichen Planens

Der Mensch lebt durch den Kopf.
Sein Kopf reicht ihm nicht aus.
Versuch es nur, von deinem Kopf
Lebt höchstens eine Laus.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlau genug.
Niemals merkt er eben
Diesen Lug und Trug.

Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ‘nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höhres Streben
Ist ein schöner Zug.

Ja, renn nur nach dem Glück
Doch renne nicht zu sehr
Denn alle rennen nach dem Glück
Das Glück rennt hinterher.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht anspruchslos genug.
Drum ist all sein Streben
Nur ein Selbstbetrug.

Der Mensch ist gar nicht gut
Drum hau ihm auf den Hut.
Hast du ihm auf den Hut gehaun
Dann wird er vielleicht gut.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht gut genug
Darum haut ihm eben
Ruhig auf den Hut!

Bertold Brecht

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