Dienstag, 2. Mai 2006
Berliner in Österreich? - Nein: Sozialisten bei Sozialisten!

Wenn der Norddeutsche zum Österreicher kommt, so ergibt das manchmal jene Figur, die vor dem Stephansturm steht und sagt: »Haben Sie keinen jrößern?« Denn solchen Ruf hat der Berliner, und zum Teil mit Recht.
Was will die »Weltbühne« in Wien? Die reichsdeutsche Ausgabe unserer Wochenschrift hat in Wien viele Freunde. Doch kann man von keinem Österreicher verlangen, dass er sich nun auch noch mit reichsdeutschen Sorgen belade – gewiß hat die deutsche Politik Rückwirkungen auch in Österreich, aber die sind lange nicht so groß, wie es die Nationalsozialisten wahrhaben wollen. Österreich ist nicht Deutschland. Für unsere österreichischen Freunde geben wir nun eine »Wiener Weltbühne« heraus, denn österreichische Politik kann von Berlin aus nicht gemacht werden. Sie soll von Wien aus gemacht werden.
Was die »Weltbühne« will, hat sie in achtundzwanzig Jahren gezeigt. Von meinem Lehrmeister, dem unvergeßnen Siegfried Jacobsohn gegründet, wurde sie nach dem Tod des Begründers von Carl von Ossietzky und mir weitergeführt. Ossietzky kann sich in dieser Wiener Ausgabe nicht äußern: er sitzt im Gefängnis. In dem Bestreben, gegen den Krieg zu arbeiten, wo immer er seinen bunten Schatten vorauswirft, hat mein Freund Ossietzky einen Artikel veröffentlicht, den wohl jeder Journalist hätte durchgehen lassen: die Arbeit befaßte sich mit eigenartigen Vorgängen in der deutschen Fliegerei. Das Reichsgericht hat den Verfasser des Artikels und den Verantwortlichen, Carl von Ossietzky, zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, eine administrative Maßnahme, die mit Justiz wenig zu tun hat. Der Kampfeswille Ossietzkys ist ungebrochen; er wird so aus der Haft hervorgehen, wie er hineingegangen ist: ein reiner Soldat des Friedens.
Mit ihm und dem Verlag ist diese »Wiener Weltbühne« durchgesprochen worden. Wir wollen unsre Reichweite vergrößern. Darf man das? Darf man sich in die Verhältnisse eines anderen Landes einmischen?
Man darf nicht nur – man muß es manchmal tun. Man muß es allemal dann tun, wenn es gilt, fremde Bundesgenossen zu unterstützen. Dazu gehören Takt, Verständnis, Ruhe und viel Wissen – aber es gibt keine inneren Verhältnisse, die den Nachbarn nichts angingen. Europa ist ein großes Haus. Seit wann darf eine Mietspartei im zweiten Stock ein Feuer anzünden und dann abwehrend rufen: »Mischt euch nicht in meine Verhältnisse! Das ist meine Wohnung!«? Jede Mietswohnung ist der Bestandteil eines Hauses – jedes europäische Land ist ein Bestandteil Europas. Wer sich abschließt, ist ein Dummkopf und ein Friedensstörer.
Und es ist ja nicht wahr, dass die Nationalisten sich nicht in die Verhältnisse andrer einmischen! Sie tun es dauernd. Die Faschisten machen außerhalb Italiens Proselyten, wo sie nur können, und sehr wenige Regierungen hindern sie daran. Das Pack schlägt sich nicht. Das Pack verträgt sich. Was hat Goebbels in Wien zu tun? Großmäuler habt ihr allein. Wer den Nationalismus predigt, bleibe zu Hause und nähre sich unredlich. Die Internationale der Nationalen ist die Rüstungsindustrie.
Anders aber liegen die Dinge, wenn Anhänger des internationalen Sozialismus sich zu Bundesgenossen gesellen. Für uns ist Osterreich kein »deutscher Raum«, sondern ein Land, in dem eine sozialistische Partei mehr erreicht hat als die Sozialdemokraten Deutschlands. Wir bejahen die Erfolge der österreichischen Sozialisten; was es an ihnen zu kritisieren gibt, das mögen unsere österreichischen Freunde kritisieren.
Das besorgten wir gegenüber der deutschen Sozialdemokratie, der wir einen großen Vorwurf gemacht haben. Nicht den, dass die Leute paktiert haben, daß sie Grundsätze geändert haben. Politik ist keine Mathematik. Aber dass die deutschen Sozialisten dergleichen getan haben, ohne auch nur das leiseste für sich zu erreichen, dass sie von Fritz Ebert bis zu dem unsäglichen Breitscheid dauernd verraten, ohne etwas dafür nach Hause zu bringen, dass sie zu einem »Novemberverbrechen« viel zu feige gewesen sind: das machen wir ihnen zum Vorwurf. Was ist aus dieser Partei geworden? Ein Judas ohne Silberlinge. Wir wünschen dem österreichischen Sozialismus größere Erfolge.
Da für uns die Interessen der arbeitenden Klassen an erster und die Staatsinteressen an zweiter Stelle stehen, so arbeiten wir auch in Osterreich. Wir haben denselben Feind. Wir wollen ihn vereint schlagen.

Kurt Tucholsky
Wiener Weltbühne, 29.09.1932, Nr. 1, S. 1.

http://www.textlog.de/kurt-tucholsky.html

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